Wie Konflikte aus dem Ruder laufen: Die neun Stufen der Eskalation

Foto: Andrey Popov, iStock

Konflikte eskalieren in Stufen. Die verschiedenen Eskalationsgrade zu erkennen und darauf angemessen zu reagieren, ist wichtig, um Auseinandersetzungen lösen zu können.

Wenn wir die Dynamik verstehen wollen, die Konflikte antreibt, müssen wir uns bewusst machen, dass Auseinandersetzungen nicht kontinuierlich eskalieren, sondern stufenweise. Jede dieser Stufen ist durch eine „Schwelle“ (die dicken vertikalen Striche in der Abbildung) begrenzt, die wir beim Übergang zur nächsten Austragungsform überschreiten. Dabei ist jede Stufe gewaltsamer als die bisherige. Insgesamt lassen sich neun Stufen unterscheiden, die von der Verhärtung bis zur totalen Zerstörung und Selbstvernichtung reichen.

1. Verhärtung

Standpunkte verhärten sich auf dieser ersten Stufe der Eskalation zuweilen, sie prallen immer mal wieder aufeinander. Es gibt zeitweilige Ausrutscher. Das Bewusstsein der bestehenden Spannung bewirkt Verkrampfungen. Doch noch herrscht die Überzeugung vor, die Spannung sei durch Gespräch lösbar.

2. Debatte, Polemik

Es kommt zu Polarisierungen im Denken, Fühlen und Wollen. Taktiken bestimmen zunehmend das Verhalten und die Parteien tun dann so, als ob sie rational argumentieren würden. Sie versuchen, über Dritte Punkte zu gewinnen. Um einzelne Standpunkte bilden sich zeitweise Gruppierungen. Es gibt Diskrepanz zwischen dem „Oberton“ und dem „Unterton“ der Diskussion und einen Kampf um Überlegenheit.

3. Taten statt Worte

Auf dieser Stufe nimmt die Überzeugung zu, dass Reden nicht mehr hilft. Daher versuchen die Beteiligten, andere vor vollendete Tatsachen zu stellen. Taten werden fehlgedeutet. Pessimistische Erwartung bewirken eine Beschleunigung des Konflikts. Der Meinungsdruck nimmt zu, das Einfühlungsvermögen geht ganz verloren und die Haltung der Konkurrenz ist größer als Kooperation.

4. Images und Koalitionen

Stereotype, Images und Klischees bezüglich Wissen, Können und Fachkompetenz, Image-Kampagnen und Gerüchte sind auf dieser Stufe verbreitet. Parteien manövrieren einander in negative Rollen und bekämpfen diese. Sie werben um Anhänger. Selbsterfüllende Prophezeiung durch Fixierung auf Feindbilder prägen das Klima. Verdecktes Reizen, Sticheln, Ärgern sind typische für diese Eskalationsstufe.

5. Gesichtsverlust

Auf dieser Stufe kommt es zu öffentlichen und direkten persönlichen Angriffen der Gegenseite. Der Glaube an moralische Integrität der Gegner geht verloren. Es kommt zu ritualisiert inszenierten Demaskierungsaktionen: Die Bilder, welche die Parteien von ihrem Gegenüber haben, sind sehr polarisiert (Engel/Teufel). Der Wunsch, die Gegenseite auszustoßen und zu verbannen ist da. Die Außenwahrnehmung geht verloren und der Kampf um Ideologie, Werte, Prinzipien gewinnt an Schärfe. Zugleich wird Rehabilitierung angestrebt.

6. Drohstrategien

Das Geschehen wird beherrscht von Drohung und Gegendrohung. Parteien manövrieren sich selbst in Handlungszwang. Der Stress wird durch Ultimata und Gegenultimata gesteigert. Das Tempo der Auseinandersetzung beschleunigt sich rapide.

7. Begrenzte Vernichtungsschläge

Das Denken in „Ding“-Kategorien nimmt zu. Die verfeindeten Parteien akzeptieren keinerlei menschliche Qualitäten mehr bei ihrem Gegenüber. Es kommt zu begrenzten Zerstörungen als „passender Antwort“. Werte und Tugenden werden ins Gegenteil verkehrt. Ein relativ gesehen kleinerer eigener Schaden wird als „Gewinn“ gewertet.

8. Zersplitterung

Auf dieser Stufe sind die Bemühungen der Gegner auf den Zusammenbruch des feindlichen Systems ausgerichtet. Vitale Systemfaktoren des Feindes werden zerstört, wodurch das System unsteuerbar wird. Die „Frontkämpfer“ werden von ihrem „Hinterland“ abgeschnürt. Das Ziel ist gänzliche Zerstörung.

9. Gemeinsam in den Abgrund

Es gibt keinen Weg mehr zurück, nur die totale Konfrontation. Der Feind wird vernichtet selbst zum Preis der Selbstvernichtung bis hin zur Lust an Selbstzerstörung. Die Bereitschaft wächst, mit dem eigenen Untergang die Umgebung beziehungsweise Nachkommen nachhaltig zu schädigen.

Warum es wichtig ist, Eskalationsstufen richtig einzuschätzen

Diese Dynamik zu kennen und die aktuelle Eskalationsstufe richtig einzuschätzen, ist sehr wichtig, wenn wir Auseinandersetzungen lösen möchten. Denn auf jeder Stufe können bestimme Interventionsmethoden hilfreich sein, während sich andere als völlig ungeeignet erweisen. Außerdem stellt der Eskalationsgrad die Beteiligten vor unterschiedliche Herausforderungen. Auf den ersten Stufen fällt es den Kontrahentinnen und Kontrahenten deutlich leichter, eigene Ideen in die Lösungssuche einbringen, als wenn sich der Konflikt auf den späteren, tieferen Stufen befindet. Zudem können neutrale Dritte die unmittelbar an der Auseinandersetzung Beteiligten auf den Stufen eins bis drei gemeinsam ansprechen, während auf den Stufen vier, fünf und später eine längere Phase der getrennten Ansprache erforderlich ist, bis die Konfliktparteien wieder miteinander ins Gespräch gehen können.

Weiters zeigt sich, dass auf den Stufen eins bis drei die Drittpartei nicht so tief intervenieren muss als auf den mittleren Stufen (vier bis sechs). Neutrale Dritte werden für die Arbeit auf den Eskalationsgraden eins bis vier weniger lang mit den Konfliktparteien arbeiten müssen als wenn sich der Konflikt auf den Stufen fünf oder sechs befindet.

Diese Unterschiede bieten für die Ansätze der Konfliktbearbeitung unterschiedliche Chancen und Grenzen. Deshalb sind von Stufe zu Stufe andere Methoden und Rollenkonzepte geboten.

Welche Interventionen helfen auf welcher Stufe?

Welche Interventionsansätze eignen sich nun für die verschiedenen Eskalationsstufen? Die folgende Abbildung zeigt schematisch, welche Interventionen durch Dritte für die verschiedenen Stufen eines Konflikts passen. Diese reichen von Moderation, Supervision und Facilitating bis hin zum „Machteingriff“ durch eine Institution, der sich die Kontrahenten unterwerfen müssen.

Spektrum der Drittpartei-Interventionen (F. Glasl 2020, S. 420 ff.)

1. Moderation, Supervision, Facilitating

Diese Ansätze stützen sich auf die Annahme, dass die Konfliktparteien nach einigen Interventionen ihre Konflikte wieder aus eigener Kraft bewältigen können. Es geht um das Initiieren und Stimulieren der vorhandenen „Selbstheilungskräfte“.

2. Prozesskonsultation, Transformative Mediation

Diese langen und intensiven Beratungsprozesse arbeiten an verzerrten und bereits fixierten Perzeptionen und Haltungen der Konfliktparteien sowie an ihren Rollen- und Beziehungsmustern.

3. System-therapeutische Mediation

Wenn die Eskalation weitreichender ist und das gegenseitige Vertrauen erschüttert, bedarf es einer Intervention, die tiefer reicht als eine transformative Mediation. System-therapeutische Mediationen überschreiten die Grenze zu therapeutischen Interventionen. Sie lehnen sich an die systemische Familientherapie an und zielen darauf ab, pathologisch deformierte und fixierte Einstellungen und daraus folgenden Beziehungs- und Rollenmuster aufzulösen. Die Drittpartei baut dabei eine in-tensive Vertrauensbeziehung zu den verschiedenen Konfliktparteien auf.

4. Klassische Vermittlung, Pendel-Mediation

Mediatorinnen und Vermittler bemühen sich um einen akzeptablen Kompromiss in Sachfragen. Dabei prägt die Verhandlungsdynamik die Interventionen. Zumeist sprechen Vermittler oder Mediatorinnen die Konfliktparteien anfangs getrennt an und aktivieren eigene Vorschläge. Die Drittpartei wirkt als Puffer zwischen den Parteien, bis diese zum Beschluss zusammengeführt werden. Auch die Drittpartei steht zu den Konfliktparteien in einer Verhandlungsbeziehung, muss zu allen die gleiche Distanz wahren und darf deshalb nur auf eingeschränktes Vertrauen rechnen.

5. Schiedsverfahren bzw. Gerichtsverfahren

Bei diesen Verfahren werden von den Konfliktparteien keine eigenen Lösungsvorschläge mehr eingeholt. Die Entscheidung liegt ausschließlich bei der Schiedsinstanz.

6. Machteingriff

Wenn der Konflikt bis zu den Stufen acht und neun eskaliert ist, kann zumeist nur noch der Eingriff einer überlegenen Machtinstanz das Schlimmste abwenden, wobei es der Machtinstanz einerlei sein kann, ob sie als parteilich gesehen wird oder nicht. Hier wird von den Konfliktparteien keinerlei Eigenbeitrag mehr erwartet, sondern nur noch, dass sie sich unterwerfen.

Fazit

Konflikte folgen einer eigenen Dynamik. Wer sie bearbeiten will, sollte zunächst analysieren, auf welcher Eskalationsstufe die Auseinandersetzung gerade ausgetragen wird. Erst dann lassen sich passende Instrumente auswählen, um den Konflikt zu bearbeiten.

Friedrich Glasl
Politikwissenschaftler und Psychologe, Organisationsberater, Konfliktforscher und Mediator. Außerdem ist er Mitbegründer der „Trigon Entwicklungsberatung“.

Friedrich Glasl ist Politikwissenschaftler und Psychologe, Organisationsberater, Konfliktforscher und Mediator. Der Mitbegründer der „Trigon Entwicklungsberatung“ wurde vielfach
als Berater bei Friedensprozessen hinzugezogen, zum Beispiel in Nordirland, Sri Lanka, Südafrika, Israel und Palästina oder der Ukraine. (Foto: Sulzer)

Friedrich Glasl

Friedrich Glasl ist Politikwissenschaftler und Psychologe, Organisationsberater, Konfliktforscher und Mediator. Der Mitbegründer der „Trigon Entwicklungsberatung“ wurde vielfach als Berater bei Friedensprozessen hinzugezogen, zum Beispiel in Nordirland, Sri Lanka, Südafrika, Israel und Palästina oder der Ukraine. (Foto: Sulzer)

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