Der Betrug um die Vier-Tage-Woche: Wir können das besser

Foto: Israel Andrade, Unsplash

Alle freuen sich. Endlich, es ist bewiesen. Arbeiten wir nur vier Tage die Woche, geht es uns besser. Das zumindest legt eine aktuelle Studie aus Island nahe. Von vielen Medien wird sie deshalb auch begeistert aufgenommen und herumgereicht:

  • Die Zeit: »Die Viertagewoche könnte auch in Deutschland funktionieren«
  • Der Spiegel: » Feldexperiment zur Viertagewoche – Island kürzt Arbeitszeit, Produktivität steigt«
  • t3n: »4-Tage-Woche in Island: 5 Fakten, mit denen Kritiker klarkommen müssen«
  • Focus: »Bald die Vier-Tage-Woche? Island reduziert Arbeitszeit drastisch – Experiment zeigt durchschlagenden Erfolg«
  • WiWo: »4-Tage-Woche macht Angestellte produktiver und glücklicher«

Die Medienvertreter sind sich einig: Eine viertägige Arbeitswoche ist besser, für die Menschen und die Wirtschaft. Die Onlinezeitung Perspective Daily fragt in ihrem Artikel  zum Thema: „Wäre die 4-Tage-Woche eine gute Lösung für Dich?“ Drei Antworten stehen zur Wahl – „Ja“, „Nein“, „Ich arbeite bereits vier Tage“. Die erste Option bekommt aktuell vierundsiebzig, die zweite sechs und die dritte achtzehn Prozent der abgegebenen Stimmen. Ich gehöre zur absoluten Minderheit, die mit „Nein“ abstimmten. Denn ich halte das durchgeführte Experiment für einen Betrug gegenüber den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern.

Der große Betrug

Viele der Digitalisierer in der Wirtschaft machen ihren Kunden diese durchaus derbe Ansage zu Beginn des Vorhabens: „Eines muss ihnen klar sein, wenn sie heute einen scheiß Prozess haben und den digitalisieren, haben sie einfach einen scheiß digitalen Prozess.“ Genauso geht es mir mit der Glorifizierung einer reduzierten Arbeitswoche. Wenn wir die Verkürzung von schlechten Arbeitsbedingungen glorifizieren, hat sich an den Umständen ja nichts verändert. Wir haben weiterhin lausige Arbeitsbedingungen.

Dabei besteht für mich kein Zweifel, dass eine deutlich bessere Arbeitswelt möglich ist. Der Gallup Engagement Index oder der DGB-Index für gute Arbeit bestätigen das regelmäßig. Ergänzende Studien von Krankenkassen und Verbänden zeigen allesamt auf, dass das Erwerbsleben enorm psychisch belastet. Darauf führen sie eine Vielzahl unterschiedlicher Krankheiten zurück. Kurz gesagt: Die moderne Arbeitswelt macht uns und unsere Gesellschaft krank. Das bestätigt auch die Studie aus Island. Denn im Kern erreichte die Reduktion der Arbeitszeit vor allem, dass die Menschen ihre unbefriedigende Arbeit besser aushalten können. Das gelingt, indem sie mehr Zeit haben, ihren Frust zu kompensieren.

Der Autor der Studie, Jack Kellam, sagt dazu im Zeit-Interview: „Die Probanden konnten über die Zeit, in der sie nun weniger arbeiten mussten, selbst bestimmen. Es ist egal, ob jemand in dieser Zeit vor dem Computer sitzt und zockt oder im Wald spazieren geht.“ Was laut Kellam die Menschen zufrieden macht, ist Selbstbestimmung. Das unterstreicht er mit der Aussage: „Wichtig ist vor allem, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ein hohes Maß an Selbstständigkeit bei der Gestaltung ihrer Arbeitszeit hatten.“

Worum es wirklich geht

Plakativ bietet die Studie eine Verringerung der Arbeitswoche als Lösung an. Doch bei genauem Hinschauen zeigt sich etwas anderes. Menschen fehlt Selbstwirksamkeit – im Leben wie im Arbeiten. Wir wollen Einfluss nehmen, mitgestalten und dreizehn gerade sein lassen. Die Art, wie heute die allermeisten Firmen organisiert sind, verhindert bei der weiten Mehrheit der Angestellten genau das. Und zwar systematisiert. Für eine gesunde Gesellschaft braucht es mehr als die Verbesserung der bestehenden Strukturen. Wir sind bereit für einen Systemwechsel. Wir brauchen ein adaptives Organisationsdesign, das selbständiges Gestalten durch die Mitarbeitenden professionalisiert. Herkömmliche Organisationsstrukturen sind kaum an diese Anforderungen angepasst. Formal festgezurrte Befehls- und Kontrollstrukturen vereiteln die Fähigkeit von Menschen, sich selbstverwaltet an verändernde wirtschaftliche, technologische und Marktbedingungen anzupassen.

Sollen die Mitarbeitenden gesund bleiben und die eigene Organisation adaptiv werden, fordert das gerade auch das Personalwesen heraus. Für den Erfolg gilt es, die Silos zu verlassen. Und mehr noch. Personalentwicklung geht in die Verantwortung der Angestellten über. Sie findet dezentralisiert statt und stets bezogen auf die konkreten Lebensumstände. In dieser Gemengelage heißt es, Autonomie zuzulassen – doch nur die, die schlussendlich auch im Sinne der Organisation handelt. Das gelingt durch drei zentrale Wirkungsmechanismen:

  • Verteilen von Führungsaufgaben/-verantwortung in die gesamte Firma, anstatt sie auf formale Rollen zu begrenzen.
  • Übergang von Management zu Selbstverwaltung
  • Transfer hin zu funktionsübergreifenden autonomen Teams

Doch was heißt das genau? Schauen wir uns die drei Aussagen im Detail an:

1. Verteilen von Führungsaufgaben/ -verantwortung

Eine adaptive Organisation verteilt die Führung über die gesamte Firma, anstatt sie auf formale Rollen zu begrenzen. In ihr ist es akzeptiert, dass die formalen Rollen oder Titel, die mit Management verknüpft sind, im Verlauf einer Transformation ihre Bedeutung verlieren. So werden gerade strukturelle und strategische Aufgabenstellungen der Firma zur Lösung und Entscheidung an die Mitarbeitenden übergeben. Handlung und Konsequenz bewertet die Organisation mit einem transparenten Reporting. In diesen Organisationen hat die gesamte Belegschaft die Aufgabe, etwa die Einführung eines neuen XRM-Systems zu beschließen, zu verantworten und umzusetzen. Statt, wie derzeit oft üblich, eine Mischung aus Geschäftsführung, externer Experten und IT.

Abbildung: Borck

Damit das gelingt, verändert sich die Kommunikation grundlegend. Heute verlangen Führungsriegen von HR teure Überredungskampagnen, Drohungen, Strafen und Zuckerbrote. Doch trotz all der Anstrengungen ist die Wirksamkeit dieser Roll-outs meist begrenzt. In adaptiven Organisationen braucht es Menschen, die Abstimmungsprozesse im Vorfeld von Entscheidungen professionalisieren. In ihnen gilt die Devise: „Du kannst Struktur und Strategie mitgestalten. Zu allen Themen. Immer!“ In Konsequenz folgt daraus, es kann kein Gemecker mehr über strukturelle und strategische Veränderungen geben. Denn wer die Möglichkeit hat, ernsthaft mitzuwirken, kritisiert ja dann die eigene Arbeit. Die Folge wäre schlicht: Nachsitzen. Deshalb geschieht etwas ganz anderes, so entwickelte Strukturveränderungen werden einfach, ohne großes Murren, umgesetzt. Mit allen nötigen und unumgänglichen Kompromissen.

Klassisch wollen Firmen schnelle Entscheidungen. Das interpretieren sie als Handlungsfähigkeit. Doch dieser Blick ist falsch. Adaptive Organisationen fokussieren sich auf das, was zählt: gelungene Umsetzung. Geschäftsführungen befürchten an dieser Stelle traditionell ellenlang basisdemokratische Kaffeekränzchen-Meetings. Sie erkennen, dass dort vornehmlich Politik gemacht wird. Derweil unterstützen Profis adaptive Organisationen längst dabei, zeitgemäß integrierende Methoden und Settings zu verwenden. Sie merzen die Politik aus den Treffen. Mit ihnen arbeiten Gruppen in den Meetings ergebnisorientiert sinnvoll zusammen. Sie machen das aus synchroner Zeit, was es ist: Die wertvollste Ressource von Zusammenarbeit. Dabei nutzen sie Kenntnisse aus der Demokratie und Soziokratie, um Selbstverwaltung zu fördern. Sie wenden wirksame Settings von Fachgebieten wie etwa der Mediation an. Und ja, natürlich greifen sie auf agile und althergebracht wirkungsvolle Methoden zurück. Doch das alles aus Richtung der Adaptionsfähigkeit auf die Organisation schauend. Vorbei an menschlichen Machtinteressen, Status und Pfründen von längst vergangenen Leistungen. 

Dieses Verhalten führt zu Überzeugungen, Einstellungen und Verhaltensweisen in Führung, die adaptive Umgebungen absichern. In ihnen gedeihen Teams wie Einzelpersonen. Wir erkennen sie an Eigenschaften wie: 

  • Alle Teammitglieder haben die notwendigen Grundlagen und Ressourcen, um ihre Arbeit zu erledigen.
  • Es herrscht aufrichtige Begeisterung für die Arbeit vor.
  • In der Organisation gibt es verständliche Zielsysteme.  
  • Das Unternehmen fördert divergierendes Denken.

Damit das dauerhaft gelingt, braucht es den …

2. Übergang von Management zu Selbstverwaltung

Die Transformation einer klassischen Firma in eine adaptive Organisation überführt Elemente des traditionellen Managements von der Anweisung mit anschließender Kontrolle und Belohnung/Bestrafung in einen kollaborativen und unterstützenden Stil. Er fördert mehr Selbststeuerung, Autonomie und Entscheidungsfreiheit. Es entsteht ein selbstverwalteter Raum mit Bezug auf die anstehende Arbeit. Das führt zu einer kontinuierlichen Verbesserung der Wertschöpfungsfähigkeiten.

Hier trennt sich die New-Work-Marketing-Spreu vom Weizen seriöser Systemveränderungen. Das folgende Beispiel verdeutlicht das. In einem mittelständischen Unternehmen, das bereits viele agile Methoden und Frameworks lebt, kommt es zu einem Umsatzeinbruch. Die Firma ist als New-Work-Leuchtturm bekannt. In der wirtschaftlichen Krisensituation entscheidet sich die Geschäftsführung schweren Herzens für den Weg, Mitarbeiter zu entlassen, um schnell die Ausgaben zu senken. In einigen sehr anstrengenden Nachtsitzungen entwickelt sie ein Konzept, wie sie das der Belegschaft beibringt und zügig umsetzt. Gedacht – getan! Die Kollegen stehen vor vollendeten Tatsachen. Denn tags darauf fehlen die Leute, die es getroffen hatte. Viele meinen, genau hier sei die Grenze der Agilität. Wenn es um schwere, strategische Entscheidungen geht, braucht es eben eine starke Führung. Und sie haben Recht. Das ist die Grenze von agilen Methoden. Sie bleiben im bestehenden System verhaftet. Betrifft es die Strategien oder Strukturen der Firma, entscheidet die Führung.

Abbildung: Borck

Adaptive Organisationen vollziehen den Systemwechsel. In ihnen ist es allen Menschen, auch der Geschäftsleitung, untersagt, Entscheidungen über den Arbeitsbereich von anderen zu treffen, ohne diesen den Raum zu geben, die Lösung ernsthaft mitzugestalten. Im beschriebenen Fall war die Belegschaft adaptiver als ihr Management. Denn sie stürmten am Tag, als die Kolleginnen und Kollegen fehlten den Verwaltungstrakt und erklärten den Eigentümern: „Das könnt ihr nicht machen. Wir wissen, wie schwer es ist, diese Leute wieder zu finden und einzuarbeiten. Das ist mittel- und langfristig völliger Schwachsinn, was ihr da getrieben habt.“ Die Chefs waren so verdutzt, dass sie alle Zusammenhänge offenlegten und zugaben: „Wir wussten nicht, was wir sonst machen sollten!“ Sie ruderten zurück.

Am Ende gab es gemeinsame Lohnverzichte. Ein Teil der Belegschaft reduzierte ihre Arbeitszeit und das damit verbundene Gehalt. So ergab sich der Weg, der für alle sinnvoll war. Eine Lösung ohne Entlassungen. Eine Implementierung ohne Widerstände. Eine Entscheidung, die den Fortbestand der Firma und den Zusammenhalt dauerhaft stärkte. Das Beispiel zeigt, die Fähigkeit adaptiv zu sein, ist weit mehr, als agil zu sein. Für die Weiterentwicklung des HR bedeutet das, die urmenschliche Begabung zur Kooperation zu nutzen, um die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens zu steigern. Überall in der Firma schaffen und unterstützen sie, synergetisch selbstverwaltete Arbeitsgruppen. Und darum geht es jetzt.

3. Transfer hin zu funktionsübergreifenden autonomen Teams

Noch immer ist es in vielen Firmen üblich, Produktivität zu erreichen, indem eine spezialisierte Belegschaft vorgeplante Tätigkeiten gehorsam ausführt. Dabei übersehen diese Betriebe, dass dieses Framework nur für bestimmte Aufgabenstellungen sinnvoll ist. So vielfältig die tatsächlich anfallenden Arbeiten sein können, sie zu unterscheiden fällt relativ leicht. Wir können uns dazu einen Schieberegler vorstellen, der folgende Grenzen markiert:

Abbildung: Borck

Links dient der Mensch einer Maschine(rie); Rechts dienen die Maschinen den Menschen.

Steht der Regler weit links, gelingt regelmäßig eine hohe Produktivität mit Fachspezialisten, die kein Interesse und keine Ahnung vom übergeordneten Prozess haben (wollen). Rückt der Regler nur ein wenig nach rechts und wird dann von den Arbeitenden erwartet, dass sie ihr Gehirn nutzen, geht die Leistung von Spezialisten ohne Verständnis für das große Ganze rapide zurück. Um die Lücke zu füllen und das Drumherum zu verstehen, gibt es ein bekanntes Mittel: Bilden Sie fach- und funktionsübergreifende Teams. 

Die Herausforderung solcher Gruppen ist die professionelle Gestaltung netzwerkbasierter, kollaborativer Strukturen in Richtung Selbstverwaltung. Das ist eine Anforderung, die klassisch der Personalentwicklung zufällt. Adaptive Organisationen geben diesen synergetischen Teams den klaren Auftrag, die Probleme zu lösen, die Kundennutzen generieren. Soll das gelingen, benötigen sie Unterstützung. Dabei ist es wichtig, sie direkt im täglichen Tun zu stärken. Ich nenne diese Arbeit Betriebskatalyse.

In der Anwendung erleben wir, es ist sinnvoll, dass »normale« Mitarbeitende sich zusätzlich darin ausbilden. Das heißt, im Übergang des Mechanismus von Befehl und Kontrolle zur adaptiven Selbststeuerung braucht es oft einen grundlegenden Kompetenzaufbau in Sachen Organisationsentwicklung und Selbstverantwortung. Unsere Arbeit zeigt, dass der weiten Mehrheit der Arbeitendenden aberzogen wurde, das eigene Selbst im Zusammenspiel mit anderen zu verwirklichen. Eine Vielzahl der Menschen bekommt ihre Maßstäbe von außen. Die Ziele richten sich, nach den Vorgaben vermehrt narzisstischer Vorgesetzter (Harvard Business Manager Heft 05/2021).

Die Herausforderung an das HR von adaptiven Organisationen ist deshalb folgerichtig, dass sie in den industriell zurechtgestutzten Arbeitsmechaniker:innen wieder die Menschen im Ganzen fördern. Das geht für Firmen allerdings nur dann gut aus, wenn neben dem Selbstwertverständnis die Fähigkeit zur Kooperation eingefordert und trainiert wird. Denken Sie jetzt: »Ganz schön viel auf einmal!«? Da haben sie vielleicht sogar recht. Also wozu das Alles?

Firmen, die diesen Weg konsequent gehen, stellen fest, dass für viele die 4-Tage-Woche oder sogar noch geringere Arbeitszeiten bei vollem Lohnausgleich kein Thema sind. Es geht ja keineswegs darum, wie lange jemand arbeitet. Es kommt darauf an, welche Wirkung sie/er mit seiner Arbeit erzielt. Und wie viel Selbstwirksamkeit sie/er dabei erreicht. Das gilt im Übrigen für die Unternehmer und Unternehmerinnen genauso wie für ihre Angestellten. Erst wenn alle selbstwirksam den Erfolg mitgestalten, kann sich eine Firma adaptive Organisation nennen. So betonen die Eigentümer der TELEDATA IT-Lösungen GmbH, Peter Wassmuth und Robin Aigner, die mit ihrem Unternehmen diesen Weg erfolgreich gehen, regelmäßig: „Einer unserer größten Erfolge ist, dass wir keine Fünfzig- oder Sechzig-Stunden-Woche mehr haben, sondern mit dreißig bis vierzig wunderbar hin kommen.“ Bei kununu liest sich die Reaktion eines Mitarbeitenden auf die adaptiven Arbeitsbedingungen in der TELEDATA so: „Einfach schön, wenn man sich Sonntags auf Montags freut“.

Und so frage ich. „Sollten wir uns wirklich weiterhin mit Vier-Tage-Wochen als Heilsversprechen betrügen, wenn es in unserer Gestaltungsmacht liegt, sinnvoll zusammen zu arbeiten?“ Ich weiß: „Wir können das besser!“

Webtipp
Die selbstwirksame Organisation. Das Playbook für intelligente Kollaboration. Von Gebhard Bock, BusinessVillage Verlag 2020.

Gebhard Borck
Geschäftsführer , GB KOMMUNIKATION GmbH
Gebhard Borck ist Berater und Geschäftsführer der GB KOMMUNIKATION GmbH, Speaker und Autor.

Gebhard Borck

Gebhard Borck ist Berater und Geschäftsführer der GB KOMMUNIKATION GmbH, Speaker und Autor.

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