Agiles Coaching: Neuer Wein in alten Schläuchen?

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Ja, Sie lesen richtig. Sie kennen sicher die Formulierung „Alter Wein in neuen Schläuchen“. Diese kritisiert Konzepte, die Bekanntes als neu ausgeben. Aus meiner Sicht ist dieser Vorwurf gegenüber agilen Coaches aber nicht beziehungsweise nur zum Teil gerechtfertigt. Denn ihre Rolle hat durchaus neue Qualitäten. Agile Coaches können Veränderung und Innovation vorantreiben. Ihre Arbeitsweisen beinhalten zwar auch die traditionellen Rollen von Coaches und Personalentwicklern in Unternehmen. Jedoch weist die Rollenstruktur der agilen Coaches neue Elemente auf. Das gilt vor allem, wenn sie mit einem potenzialfokussierten Mindset arbeiten und das Ermöglichen in den Mittelpunkt stellen.

Für den „neuen Wein“ besteht jedoch die Gefahr, dass er seine Wirkung (und sein Bouquet) verliert, wenn er in „alten Schläuchen“ fließt, wobei mit den „alten Schläuchen“ traditionelle Formen der Unternehmensführung (wie zum Beispiel „Command and Control“) gemeint sind.

Doch beschäftigen wir uns zunächst mit der Frage, was agiles Coaching eigentlich ausmacht. Was müssen agile Coaches leisten und wissen? Und worin besteht die Besonderheit ihrer Arbeitsweise?

Aufgaben agiler Coaches

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Es ist wohl kaum näher zu begründen, dass agile Coaches agile Prinzipien und Praktiken kennen müssen – und hier vor allem die „Frameworks“ (zu Deutsch „Ordnungsrahmen“ oder „Ideengerüste“) wie Kanban, Scrum oder Lean. Da Unternehmen in der agilen Transformation jedoch häufig adaptierte Frameworks einsetzen, hängen die notwendigen Kenntnisse vom jeweiligen Modell des Unternehmens ab.

Unabhängig von den Modellen, mit denen die Unternehmen arbeiten, besteht die zentrale Aufgabe der agilen Coaches darin, Transformationsprozesse zu ermöglichen und zu begleiten. Hier geht es vor allem darum, beim Überwinden der Hindernisse zu unterstützen. Die Rolle des Ermöglichers erfordert recht unterschiedliche „Skillsets“ und daher viel Rollenflexibilität und Agilität bei den Coaches selber. Gelingt den agilen Coaches eine wirksame Begleitung in diesen Rollen, so können sie  als „Role Model“ noch einen zusätzlichen Beitrag für Veränderung leisten.

Lediglich Kenntnisse zu Frameworks und Prinzipien agiler Transformation zu haben, macht somit noch keinen Agile Coach aus.

Vier Rollen agiler Coaches

Agile Coaches üben ihre Aufgaben in vier verschiedenen Rollen aus:

1. Die Coach-Rolle

Sie begleiten Teams dabei, Transformationen umzusetzen, indem sie Gespräche, Workshops, Retrospektiven oder Dailies gestalten. Dies ist der „klassische“ Teil ihrer Aufgaben.

2. Die Mentoren-Rolle

Agile Coaches unterstützen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dabei, in neuen Rollen wie zum Beispiel Product Owner oder Scrum Master zu agieren. Sie führen die Mitarbeitenden durch Mentoring an ihre Rollen heran, vermitteln Know-how für den erfolgreichen Umgang mit diesen Rollen, unterstützen beim Übergang und reflektieren mit ihren Mentees die mit den neuen Aufgaben verbundenen Vorgehensweisen und Prozesse.

3. Die Change-Agent-Rolle

Da agile Transformationen oft das gesamte Unternehmen betreffen, sind agile Coaches immer wieder mit Fragen des organisationalen Wandels und der Unternehmensentwicklung beschäftigt. Kenntnisse von Change-Architekturen und Kulturtransformation sind hier ebenso notwendig wie eine hohe Reflexionsfähigkeit hinsichtlich des Wechselspiels von Veränderungen auf den Ebenen Mitarbeiter-Team- Unternehmen.

4. Die Trainer-Rolle

Agile Coaches spielen das für die Transformation notwendige Know-how (Prinzipien, Mindset, Formate,…) im Rahmen von Trainings und Inputs ein. Dabei ist immer wieder Überzeugungsarbeit notwendig. Außerdem können leicht Rollenkonflikte mit der Coachingrolle entstehen, wenn die Inhalte in einem Training mit den Vorstellungen der Beteiligten nicht übereinstimmen. Daher ist es wichtig, die jeweilige Rolle vor der Arbeit im jeweiligen Set-up zu klären. Hilfreich ist in der Regel eine hohe Frustrationstoleranz und Resilienz beim Bewältigen dieser Rollenkonflikte.

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Die hier beschriebenen Rollen und Aufgaben sind nicht grundsätzlich neu, wenn es um das Bewältigen von Transformationen in Unternehmen geht. Neu hingegen ist die Kombination der Rollen in einer Person, denn hier ist (fast) alles zusammengewürfelt, was die Beratungswelt an Rollen in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt hat. Das bietet die Chance, dass sehr rasch unterschiedlichstes Entwicklungs-Know-how verfügbar ist. Es setzt jedoch ein hohes Kompetenzniveau und eine großes Ausmaß an Flexibilität und vor allem auch der Fähigkeit zur permanenten Kontextklärung bei agilen Coaches voraus.

Um nochmals die Metapher der Überschrift aufzunehmen: Agiles Coaching ist vor diesem Hintergrund nicht wirklich „neuer Wein“ sondern eher ein „gemischter Satz“ (der Begriff bezeichnet in der Weinkunde einen neuen Wein, der aus der Kombination unterschiedlicher Rebsorten/Weingärten entsteht). Agiles Coaching beinhaltet aber auch weitere Qualitäten, wodurch noch mehr Neues in Transformationsprozesse einfließen kann:

Worauf es vor allem ankommt

Ermöglichen (Enabling)

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Ermöglichen bedeutet, dass agile Coaches aus der jeweiligen Situation heraus den Ablauf so gestalten, dass sie ein möglichst hohes Ausmaß an Entwicklungsmöglichkeiten für die jeweiligen Beteiligten schaffen. Das erfordert kurzfristiges und möglichst spontanes Reagieren auf die Geschehnisse in den Meetings und Trainings. Je mehr es dem agilen Coach gelingt, kurzzyklisch zu reagieren und das Vorgehen (möglichst unter Einbindung der Beteiligten) zu adaptieren, umso agiler gestaltet der Coach seine Rolle.

Potenzialfokussiertes Mindset

(Agile) Transformation benötigt viel „Treibstoff“ und Motivation, um den Prozess zu initialisieren und aufrechtzuerhalten. Diesen Treibstoff können wir anzapfen, indem wir uns auf gelingende Veränderungen fokussieren. Wandel weckt in Unternehmen oft Widerstand, Zweifel und Skepsis. Nicht selten dominiert der Blick auf die Defizite. Auf kleine Erfolge zu schauen, ist ein wirksames Mittel, um die Unterstützer zu stärken und Skepsis zu reduzieren. Selbstverständlich sollten wir Widerstand und Schwierigkeiten ernst nehmen und auch als Wegweiser für notwendige Adaptionen der Veränderungsprozesse betrachten.

Agile Coaches mit einem potenzialfokussierten Mindset gehen mit diesen Hürden konsequent zukunftsorientiert um: Sie geben keinen bis wenig Raum dafür, die Ursache von Problemen zu analysieren. Stattdessen laden sie die Beteiligen zu einem Sprung in die etwas besser gelingende Zukunft ein, um kleine positive Unterschiede für die positive Veränderung erarbeiten zu lassen. Damit transformieren sie Probleme in Potenziale und stärken die Zuversicht für Veränderung.

Agiles Coaching und Personalentwicklung

Die Arbeit von agilen Coaches kann auch neue Chancen für die Kompetenzentwicklung bieten. Die Methodenvielfalt der Personalentwicklung kommt nun noch näher an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter heran, indem agile Coaches nicht nur Transformation, sondern die laufende Qualifizierung der Beteiligten ermöglichen. Da sie – anders als Führungskräfte – nicht durch Managementverantwortung „belastet“ sind, können sie entwicklungsorientierter wirksam werden.

Darüber hinaus sind die agilen Coaches auch wertvolle Partner des HR, da sie synchronisierte Informationen für Angebote der Personalentwicklung und des HR-Managements „just in time“ liefern können. HR und Personalentwicklung stehen nun weniger unter Druck, die Notwendigkeit von Lernen und Weiterentwicklung zu betonen, da agile Coaches dies übernehmen. Sie können sich neu positionieren und als Begleiter der agilen Transformation stärker auf bedarfsnahe Angebote und strategische Aspekte konzentrieren.

Der Kulturwandel

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Kommen wir zurück zur Redensart des „neuen Weins in alten Schläuchen“. Was ist damit gemeint? Die Metapher von „alten Schläuchen“ soll darauf hinweisen, dass die vorhandenen Ausprägungen  der Unternehmenskultur, der Struktur und des Leaderships den Umgang mit einer agilen Transformation stark prägen. Sie wirken wie ein Gefäß, indem die neuen Transformationskonzepte ihre Wirkung entfalten. In diesem Gefäß werden die neuen Veränderungsangebote laufend bewertet und interpretiert und der Möglichkeitsraum für Veränderung ist dadurch eingeschränkt.

Daher braucht es für eine Transformation auch die Veränderung des Gefäßes und damit der Kultur, der Struktur und des Leaderships. Wenn hier kaum oder keine Veränderung eintritt, so kann selbst ein hoch professionelles Arbeiten von agilen Coaches in der Wirkung nur beschränkt sein. Gelingt hingegen dieser „Umbau“, dann stehen die Chancen gut, dass agile Transformation gelingen kann und somit tatsächlich ein „gemischter Satz in neuen Schläuchen“ fließen kann.

Webtipp

Lehrgang „Professional Agile Coaching“

Günter Lueger

Günter Lueger leitet das Potenzialfokus Center in Wien und ist wissenschaftlicher Leiter des Lehrgangs "Professional Agile Coaching". Zuvor war er Wissenschaftler und Universitätsprofessor für Personalführung und Coaching an der Wirtschaftsuniversität Wien und der PEF Privatuniversität in Wien. Er ist Autor verschiedener Fachbücher, hält internationale Vorträge und hat agile Tools für die Transformation entwickelt.

Günter Lueger

Günter Lueger leitet das Potenzialfokus Center in Wien und ist wissenschaftlicher Leiter des Lehrgangs "Professional Agile Coaching". Zuvor war er Wissenschaftler und Universitätsprofessor für Personalführung und Coaching an der Wirtschaftsuniversität Wien und der PEF Privatuniversität in Wien. Er ist Autor verschiedener Fachbücher, hält internationale Vorträge und hat agile Tools für die Transformation entwickelt.

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